Beitrag von Rolf Bökemeier für „Antikefan“
Antike Quellen, topografische Merkmale und archäologisch/numismatische Funddokumentationen führen bei integrierter Betrachtung zu dem Ergebnis, dass in Kalkriese vermutlich 15 n. Chr. die Schlacht des Caecina und nicht die Varuschlacht im Jahre 9 n. Chr. stattgefunden hat.
Bemerkenswerte Aussagen von Heinz Günter Horn, des ranghöchsten Denkmalpflegers des Landes Nordrhein-Westfalens, zu dem römischen Kampfplatz in Kalkriese erfolgten im Katalog -Handbuch zu der Ausstellung „Von Anfang an“ im Römisch Germanischen Museum in Köln (11. 3. - 28. 8. 2005):
„Auch scheint es noch keineswegs ausgemacht, daß wir mit dem Schlachtplatz von Kalkriese bei Bramsche im Osnabrücker Land (Niedersachsen) tatsächlich den Ort der Varusschlacht vor uns haben. Es gibt offensichtlich bedenkenswerte Argumente, ihn eher mit einem für die Römer ebenfalls verlustreichen Kampfgeschehen im Sommer 15 n. Chr. in Verbindung zu bringen. Damals geriet Aulus Caecina mit einem Teil des Niedergermanischen Heeres auf dem Rückmarsch von der Weser an den Rhein in einen Hinterhalt des Arminius.“
Dieses Zitat eines bedeutenden Archäologen könnte geeignet sein, ein Umdenken hinsichtlich der Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese einzuleiten. Der Verfasser wird sich in den folgenden Ausführungen bemühen, wichtige Argumente für dieses „Umdenken“ zusammenzufassen.
1. Tacitus (Ann. I/63-68 ) ist der einzige antike Historiker, von dem es heute noch einen Text mit einem geografischen Hinweis auf den Ort der Varusschlacht gibt. Dieser Hinweis erfolgt in Zusammenhang mit dem Bericht dieses Historikers über den Rachefeldzug der Germanicusarmee im Jahre 15 n. Chr. mit zwei selbständig operierenden Heeresgruppen unter Führung des Unterbefehlshabers Caecina mit den niederrheinischen Legionen I,V,XX, XXI und mit den oberrheinischen Legionen II, XIII, XIV, XVI unter Leitung des Oberbefehlshabers Germanicus selbst. Dieser Rachefeldzug erstreckte sich zunächst auf die Verwüstung des Bruktererlandes zwischen Ems und Lippe. Dort fand man den in der Varusschlacht offensichtlich von den Brukterern erbeuteten Adler der XIX. Legion wieder. Dieser Fund zusammen mit den Rachetaten an der Bruktererbevölkerung sind starke Indizien dafür, dass die Brukterer an der Varusschlacht entscheidend mitgewirkt haben.
Im Tacitustext heißt es anschließend:
„Darauf wurde das Heer bis an das äußerste Ende des Bruktererlandes geführt; alles Land zwischen Ems und Lippe ward verwüstet, nicht weit vom Teutoburger Walde, wo, wie es hieß, die Reste des Varus und seiner Legionen noch unbeerdigt lagen....“
Wichtig ist zunächst der Ortshinweis „äußerstes Ende des Bruktererlandes zwischen Ems und Lippe“. Das vom Ort des römischen Standlagers castra Vetera I in Xanten aus gesehene „äußerste Ende des Bruktererlandes zwischen Ems und Lippe“ kann nur zwischen den Oberläufen beider Flüsse vor dem dort ansteigenden heutigen Teutoburger Wald gelegen haben, etwa im Bereich der Orte Stukenbrock und Augustdorf.
Von dort war es nicht weit (haud procul) zum Schlachtfeld. Wie „haud procul“ auszulegen ist, darüber gibt es seit Paul Höfer und Theodor Mommsen Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder Streit. Der Verfasser schließt sich der häufigen Auslegung „nicht weiter als ein Tagesmarsch“ an. Vier bis fünf Tagesmärsche (ca. 80 km) von Augustdorf nach Kalkriese würden die Aussage „nicht weit“ ad adsurdum führen.
Damit spricht der Tacitustext eindeutig in diesem ersten Argument gegen die Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese.
2. Nach der Beerdigungsaktion auf dem Schlachtfeld im Teutoburger Wald durch das Germanicusheer und einer sich anschließenden unentschiedenen Schlacht zwischen den beiden römischen Heeresgruppen und dem Arminiusheer trennen sich die römischen Heeressäulen. Während die Germanicuslegionen direkt an die Ems und von dort über die friesische Provinz an den Niederrhein und später in die oberrheinischen Quartiere zurückkehren, bekommt Caecina mit seinen vier Legionen den Auftrag, über die „Langen Brücken“ (pontes longi) auf bekannten Wegen zurück an den Niederrhein in die Winterquartiere zu ziehen. Dabei sollte dieser offensichtlich wichtige Heerweg an den „Langen Brücken“ ausgebessert werden.
Tacitus beschreibt nun (Annalen I/63-68 ), wie die vorauseilenden germanischen Kämpfer unter Arminius und Inguiomerus den römischen Heereszug des Caecina an den „pontes longi“ überfallen und beinahe vernichtet hätten. Die Schilderungen dieser Schlacht sind derartig minutiös und mit topographischen Hinweisen versehen, dass man beim Lesen direkt die Landschaft von Kalkriese vor Augen hat. Ganz entscheidend sind folgende Aussagen des Tacitus für dieses Kampfgeschehen an den „Langen Brücken“:
„Von den Legionen wurde die V. zur Deckung des rechten und die XXI. zur Deckung des linken Flügels (der Heeresgruppe!) bestimmt; die I. sollte die Vorhut und die XX. die Nachhut bilden...
Nach Tagesanbruch verließen die beiden auf die Flanken beorderten Legionen .....ihre Stellung und besetzten schnell das ebene Feld jenseits des Moores....“
Genau diesem angegebenen Schlachtverlauf entsprechend, fanden die Archäologen aus Kalkriese in Höhe des Hauptfundortes der Schlachtrelikte ein gabelförmiges Auseinanderweichen des vorherigen einzigen breiten Fundstreifens in zwei neue Fundstreifen. Der eine Fundstreifen behält seine Richtung südwestwärts nach Engter bei (I. und XX. Legion), während der sich gabelförmig abspaltende zweite Fundstreifen (V. und XXI. Legion) nordwestwärts auf trockene Ackerflächen jenseits des Großen Moores führt (Abb. 1). Gibt es eine bessere Übereinstimmung der historischen Quelle und der aufgefundenen Verteilung des archäologischen Fundinventars?
3. Wenn dann noch 14 km westlich von Kalkriese/Engter das Gut „Langenbrück“ und die „Langenbrücker Straße“ Richtung Engter mit ehemals vielen moorigen Abschnitten zu berücksichtigen sind, könnte man die Langen Brücken als eine Reihung von Brücken und Knüppeldämmen auf der alten Heerstraße zwischen Kalkriese und Gut Langenbrück in Richtung zum Emsübergang bei Rheine ansehen. Das Quellenstudium führt somit zu der Annahme, dass die Römerschlacht in Kalkriese vermutlich eine Arminiusschlacht gegen die Legionen des Caecina im Jahre 15 n. Chr. gewesen ist, die nach den antiken Quellen an den „pontes longi“ stattgefunden hat.
4. Die Hauptbegründung der Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese wird von den Anhängern dieser These aus den numismatischen Aussagen von Frank Berger hergeleitet. Dieser hatte sinngemäß folgende Argumentationskette aufgebaut:
Das römische Münzfundinventar von Kalkriese sei mit dem vom Römerlager Haltern „strukturidentisch“. Da in Haltern unstrittig römisches Militär unter Varus stationiert gewesen sei, müssten es folglich die Legionäre des Varus gewesen sein, die in Kalkriese vernichtet worden seien.
Berger formulierte in Wolfgang Schlüter/Rainer Wiegels, Rom, Germanien und die Ausgrabungen in Kalkriese, Universitätsverlag Rasch, Osnabrück1999, S. 274/275:
„Der strukturelle Vergleich beider Fundplätze (Haltern und Kalkriese!) erbrachte das Resultat, dass die Silberhorte und Silbereinzelfunde von Kalkriese eine völlig identische Zusammensetzung haben und zur gleichen Zeit enden. Daraus folgt, dass die Ereignisse um Kalkriese und die Aufgabe Halterns etwa zur gleichen Zeit geschahen. Mit der Formulierung „etwa zur gleichen Zeit“ wird an einen Zeitraum von etwa einem Jahr gedacht. Als Datum dieser Aufgabe Halterns gilt gemeinhin das Jahr 9 n. Chr.. Dieses Datum wurde in jüngerer Zeit nie angezweifelt.“
Berger etwas später:
„Somit kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass wir es bei den Fundmünzen von Kalkriese mit einem Bestand zu tun haben, der im Jahre 9 n. Chr. in bzw. auf den Boden kam. Art, Menge und Verbreitung der Münzen lassen nur den Schluss zu, dass es sich um das letzte Kampffeld der varianischen Legionen handelt, und zwar um den Ort des Unterganges am dritten Tag.“
Diese weitreichenden Schlussfolgerungen Bergers sollen hier unkommentiert bleiben. Jedoch soll die „völlig identische Zusammensetzung“ der Silberhorte und Silbereinzelfunde von Haltern und Kalkriese durch eine Analyse der dort jeweils gefundenen sogenannten Legionsdenare widerlegt werden, die sich deshalb für eine derartige Untersuchung eignen, weil sie unterschiedlich die Legionsziffern I-XXIII eingeprägt besitzen. Die Grafiken der Abb. 2a und 2b (aus: R. Bökemeier, Römer an Lippe und Weser..., Huxaria, Höxter 2004, S. 240/241) sind rein mathematisch-statistisch zu sehen und nicht mit den üblichen Beurteilungskriterien der Numismatiker zu bewerten. Es geht einfach um die Frage, besteht eine ausreichende statistische Korrelation zwischen der Verteilung der Legionszeichen auf diesen Denaren zwischen denen der Fundinventare aus dem Fundort Lager Haltern und vom Schlachtfeld Kalkriese.
Um den Vergleich sicherer zu machen, sind zusätzlich die Legionsdenare der Fundorte Onna/Feins in Friesland und der Römerlager Nijmegen und Vindonissa statistisch mit zum Vergleich gestellt. Die Einzelheiten der Vergleichsanalyse aus der o. a. Publikation des Verfassers sollen hier nicht angeführt werden. Es seien auf die Ausführungen in dem vorgenannten Buch verwiesen. Das Ergebnis (S. 238) lässt sich visuell leicht an den Grafiken überprüfen:
„Ähnliche Diagramme ergeben sich von den Fundplätzen Kalkriese, Onna/Feins und, geringfügig abweichend, von Nijmegen. Völlig unterschiedliche Struktur zeigt dagegen das Diagramm von Haltern, so daß schon auf den ersten Blick die von Berger postulierte Ähnlichkeit der Denarinventare von Kalkriese widerlegt wird.“
Damit entfällt die Basis für die Argumentationskette Bergers für die Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese.
Weitere Nachweise der Unterschiedlichkeit der Münzinventare von Haltern und Kalkriese werden durch Wolfgang Lippek in seinem Beitrag „Inhaltliche Strukturanalyse der Denarkomplexe von Kalkriese und Haltern“, Lippische Mitteilungen, Naturwissenschaftlicher und Historischer Verein, Detmold 2002, geführt. Im Gegensatz dazu ergeben die Diagramme der Abb. 2b deutliche Hinweise dafür, dass es sich bei den Legionären von Kalkriese um Angehörige der Heeresgruppe des Caecina aus dem Jahre 15. n. Chr. gehandelt hat. Die Begründungen für diese Aussage finden sich in der o. a. Publikation des Verfassers auf den Seiten 242-244. Damit würde der Fundmünzenbestand aus Kalkriese um sechs Jahre jünger als der Zeitpunkt der Varusschlacht anzusetzen sein.
5. Überraschenderweise hatte F. Berger eine entsprechende Festlegung in „Kalkriese I - Die Römischen Fundmünzen“, Mainz 1996, S. 43, bereits früher vorgenommen.
Wortlaut F. Berger: „....Dies bedeutet, daß der Fundmünzenbestand von Kalkriese strukturell erheblich jünger ist als der von Haltern.“
Damit wären logischerweise auch die Legionäre von Kalkriese jünger als die von Haltern gewesen. Jünger mussten die Legionäre des Caecina gewesen sein, weil z. B. sich darunter die Legionäre der im Jahre 10 n. Chr. neu in Köln aufgestellten I. Legion befanden, von der es auch keine Münzen mit dem Legionszeichen I geben konnten, weil diese ja im Jahre 32/31 v. Chr. bei der Münzprägung eingegossen worden sind. Die zu diesem Zeitpunkt bestehende I. Legion wurde noch v. Chr. wegen unehrenhaften Verhaltens von Augustus aufgelöst. Denare mit Zeichen dieser aufgelösten Legion gibt es noch vereinzelt aus römischen Lagern in Süddeutschland und Frankreich.
Es ist zu fragen, weshalb man sich in Kalkriese nicht an diese die Lokalisation der Varusschlacht in Kalkriese ausschließende frühe Aussage Frank Bergers über das „strukturell erheblich jüngere“ Alter gehalten hat. Dann wäre es nicht zu den geschichtsverfälschenden Aussagen und Kampagnen in Kalkriese gekommen.
6. Die neu aufgestellte I. Legion rettete nach Tacitus Caecina aus einer bedrohlichen Kampfsituation. Sie war also selbst in harte Kämpfe verwickelt. Es wurde von den Kalkrieser Archäologen eine Buntmetallschließe aus dem Kettenpanzer eines Legionärs mit einer Ritz- und einer Punzinschrift geborgen. Georgia Franzius (Die römischen Funde aus Kalkriese, Rasch Verlag, Bramsche 1993) gab folgende Sinnübersetzung dieser Inschriften:
„Der Legionär M. Aius diente in der 1. Kohorte und in der Centurie des Fabricius.“ Angesichts der Tatsache, dass bei Inschriften auf Grabstelen für verstorbene römische Soldaten bei der Kohortenangabe fast immer Coh. für Cohors (Kohorte) steht, ist es naheliegender, das Fehlen der Cohors-Angabe dadurch zu erklären, dass die Legion I gemeint war. Die entsprechend richtigere Sinnübersetzung wäre dann:
„Der Legionär M. Aius diente in der I. Legion des Legaten (Legionsführers) Fabricius“ In ähnlicher Richtung formuliert Peter Kehne (Vermarktung kontra Wissenschaft: Kalkriese und der Versuch zur Vereinnahmung der Varusschlacht, in: Die Kunde, Neue Folge 54, Jahrgang 2003/Teil 2, S. 103):
„Für Irritation bei der Publikation von Kalkriesefunden sorgten ebenfalls jene auf römischen Gebrauchsgegenständen entdeckten „Ritzinschriften“, von denen zeitweilig inoffizielle Fotokopien kursierten. Verwunderlich ist schon, dass von einigen keine Rede mehr ist, nachdem mehrere Betrachter auf diesen Abkürzungen für die legio I (Germanica) und die legion V Alaudae, also eindeutig an den Germanicusfeldzügen beteiligten Truppen (Tac. Ann. 1,31; 37; 51; 64 etc) zu erkennen meinten.“
Für den Verfasser sind die Argumente dafür, dass in Kalkriese Caecina und seine vier Legionen I,V,XX,XXI um das Überleben kämpften und nicht die Varuslegionen in das Verderben marschierten, eindeutig und erdrückend.
Abb. 1
Die Verteilung der Funde auf dem Schlachtfeld von Kalkriese
Nach der modifizierten Karte 2 aus der Publikation von Wolfgang Schlüter/Rainer Wiegels, Rom, Germanien und die Ausgrabungen von Kalkriese (Rasch Verlag, Osnabrück 1999, S. 30/31) zeigen die Funde eine Verzweigung in zwei Äste. Der untere Ast weist nach Südwesten in Richtung auf Engter und könnte nach Tacitus (Ann. I/63-68 ) auf den Zug der Vorhut (I. Legion) und der Nachhut (XX. Legion) des Caecinaheeres zurückzuführen sein. Der obere Fundast nach Nordwesten könnte nach der gleichen Quelle den flüchtenden Flankenlegionen V und XXI zuzuordnen sein. Das Verteilungsbild der Funde entspricht dem Tacitustext für die Schlacht des Caecina gegen Arminius und seine Krieger an den „pontes longi“ im Jahre 15 n. Chr.
Abb. 2a
Die Verteilung der Legionszeichen auf den Legionsdenarfunden aus Kalkriese, Haltern, Vindonissa (Stand 1999)
Statistisch zeigt sich keine Ähnlichkeit der drei Fundinventare. Auffällig ist im Inventar Haltern das Dominieren der Legionszeichen von den Legionen, mit denen Varus Kontakt hatte: Legionen XVII, XVIII, XIX, sie gingen mit Varus unter, III (Gallica) sie stand in Syrien, wo Varus Statthalter war, dazu XII (Fulminata) aus dem Syrien benachbarten Ägypten. In Kalkriese sticht der hohe Anteil an Legionszeichen der II. Legion (Augusta) hervor, die erst nach der Varusschlacht von Spanien an den Rhein beordert wurde.
Abb. 2b
Die Verteilung der Legionszeichen auf den Legionsdenarfunden aus Kalkriese, Onna/Feins und Nijmegen.
Die große Ähnlichkeit der Fundinventare von Kalkriese und Onna/Feins könnte seinen Grund darin haben, dass beide Inventare auf die Germanicusarmee zurückzuführen wäre, eine Tatsache, die für die Inventare Onna/Feins kaum bestritten werden kann. Das Inventar von Nijmegen zeigt im Gegensatz zu den Inventaren Haltern und Vindonissa (Abb. 2a) noch eine gewisse Grundähnlichkeit mit dem Kalkrieser Inventar. Es gibt dort jedoch Sonderkonzentrationen, wie z. B. die Legionszeichen der X. Legion, die etwa 30 Jahre lang in Nijmegen stationiert gewesen ist..