Beitrag von Rolf Bökemeier für „Antikefan“
Bis um 20.15 Uhr am 28. April 2005 war der Verfasser der Meinung gewesen, das berühmte, seit Jahrhunderten gesuchte Sommerlager des Varus habe sich im Raum Herford/Bad Salzuflen an der dort schiffbaren Werre in Richtung auf Minden zu befunden. Neben dortigen Lokalisierungen durch frühere Autoren wie Mommsen, Knoke, Höfer und von Stamford hatten vor allem logistisch strategische Erwägungen auf der Basis antiker Quellen den Verfasser zu dieser Lokalisierung geführt. Etwa so:
„Tiberius hatte im Jahre 4 n. Chr. einen großen erfolgreichen Heereszug bis an die Elbe unternommen und die Chaucen im Jahre 5 n. Chr. zwischen der unteren Weser und Elbe unterworfen. Danach war, vermutlich in Absprache mit Augustus, für das Jahr 6 n. Chr. die Zerschlagung der Streitmacht des letzten bedrohlichen germanischen Stammes, der Markomannen, im heutigen Tschechien geplant. Offensichtlich sollte dann die römische Provinzialisierung bis an die Elbe ausgedehnt werden. In diesem Jahre jedoch brach der Aufstand der Pannonier aus. Tiberius musste mit 8 Legionen aus dem illyrischen Raum diesen Volksaufstand bekämpfen. Selbst der fähige Statthalter Saturninus musste aus Germnanien an die Front nach Pannonien abkommandiert werden. An seiner Stelle bekam Varus wahrscheinlich im Jahre 7 n. Chr. den Auftrag, als Statthalter die Provinzialisierung in Germanien voranzutreiben und Tribute einzuziehen.“
Hier an dieser Stelle hatte der Verfasser bisher u. U. einen strategischen Fehler gemacht. Er hatte geglaubt, dass die Tribute nun auch aus dem Chaucenland zwischen dem heutigen Bremen und Hamburg eingezogen werden müssten, zumal Tiberius offensichtlich für diese Zwecke ein Dauerkastell an der unteren Weser errichtet hatte. Damit wäre logistisch der Ort für das Sommerlager des Varus an der unteren schiffbaren Werre bei Herford/Bad Salzuflen in größerer Nähe zu den Chaucen prädestiniert gewesen, zumal man von dort unter Einsparung eines Tagesmarsches durch den bequemen Bielefelder Pass, ohne Bergland überwinden zu müssen, zurück an die mittlere Lippe in Richtung auf die Winterlager am Niederrhein gelangen konnte.
Am 28. April um 20.30 Uhr stimmte dieses vom Verfasser erdachte Szenario nicht mehr. In ca. 10 Jahren intensiver Recherchen auf den D-SAT-Aufnahmen des russischen Cosmossatelliten (CD-ROM, Art. Nr. 641 der Fa. TOP WARE) hatte der Verfasser viele Regionen auf dem Monitor betrachtet. Er hatte dabei festgestellt, dass die Aufnahmen offensichtlich auf Infrarotfilmen vorgenommen worden waren, die Strukturen bis in die Tiefe von einem halben Meter abbilden konnten. Luftbilder auf herkömmlichem Filmmaterial zeigten nämlich diese Strukturen in der Regel nicht.
Aus unerfindlichen Gründen war bis dahin nicht das Gelände von Lügde/Kreis Lippe auf den D-SAT-Aufnahmen betrachtet worden. Dorthin ging nun der „Flug“ am 28. April um 20.15 Uhr. In wenigen Minuten war die Überraschung perfekt. Auf dem Gelände „Ställe“ östlich von Lügde schien eine Fläche von ca. 70 ha völlig von Strukturen überzogen zu sein, die möglicherweise auf heute noch vorhandene Fundamentstrukturen großer Gebäudekomplexe zurückzuführen sein könnten. Zentral an der heute noch mitten durch das mögliche Lagergelände führenden Straße lagen Strukturen zweier mutmaßlicher Großgebäudekomplexe. Der eine Komplex schien einen großen Innenhof anzuzeigen und große Ähnlichkeit mit den Lagerforen (principia) von den Römerlagern castra Vetera I und Neuß (Koenenlager) aufzuweisen.
Das mögliche Forum errechnete sich mit Hilfe einer guten topografischen Karte als 120 x 150 m groß. Die mutmaßliche Hauptstraße (via principalis) wurde im Osten durch zwei dunkle ca. 50 m auseinander liegende Streifen gekreuzt. Konnten es die Gräben der sehr breiten via praetoria sein? Auch in Haltern war die via praetoria etwa 50 m breit.
In den nächsten Tagen erfolgte die topografische Nachsuche. Auf dem Platz des möglichen Forums war das Grünlandgelände so uneben wie oftmals auf der Fläche einer Wüstung. Die angefertigten Fotos zeigten später sogar große rechteckige Strukturen in dem dort heranwachsenden Gras. Liegen sie über möglichen Fundamentresten?
Der Freundeskreis für Römerforschung im Weserbergland (www.roemerfreunde-weser.info) wird alles tun, um Luftbildaufnahmen und Magnetogramme von den Strukturen von Lügde zu erstellen, ehe dort die geplante Umgehungsstraße archäologischen Schaden anrichtet, umsomehr als die informierte zuständige Denkmalpflege vorläufig keine Untersuchungen vor dem Bau der Straße vorsieht. Über die Ergebnisse dieser Sondagen werden wir unsere homepage-Besucher informieren. Da vor etwa 5-6 Jahren Raubsondengänger genau im fraglichen Gelände römische Münzen gefunden haben sollen und D. Kirchhoff dort einen augusteischen Sesterz (M. Zelle, Heimatland Lippe, Ausgabe 05/2003) barg, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die von den D-SAT-Aufnahmen angezeigten Strukturen Resten eines großen überbauten ehemaligen römischen Mehrlegionenlagers zuzuordnen sind. Wenn sich archäologisch ein großes Römerlager nachweisen ließe, dann könnte es aufgrund der Bauten nur ein Standlager gewesen sein. Ein Standlager ist nach der antiken Quellenlage nur für das „Sommerlager des Varus“ anzunehmen.
Die oben angeführte logistische Gedankenkette des Verfassers für den bisher angenommenen Ort des Sommerlagers des Varus bedürfte dann etwa folgender Modifizierung:
„Am Beginn seiner Statthalterschaft vermutlich im Jahre 7 n. Chr. konnte man noch nicht absehen, dass die Kämpfe in Pannonien bis zum Jahre 9 andauern würden. Noch stand wahrscheinlich die Planung im Raum, über die Vormarschstraße „Großer Hellweg“, heute annähernd durch den Verlauf der B1 über Soest - Paderborn - Horn - Schieder - Lügde - Ohsen/Weser - Hildesheim zur Elbe bei Magdeburg gekennzeichnet, die Provinzialisierung des Freien Germaniens bis zur Elbe voranzutreiben. Lügde liegt an dieser wichtigen Vormarschstraße einen Tagesmarsch westlich der Weser an der vermutlich damals dort schiffbaren Emmer. Es ist eine ähnliche strategisch herausragende Lage wie die die von Herford/Bad Salzuflen an der schiffbaren Werre.“
Bei konsequent durchgeführter Strategiedebatte hätte man durchaus ganz theoretisch auf die Lokalisierung des Sommerlagers des Varus in Lügde kommen können:
An der Aufmarschstraße in Richtung zur Elbe, so weit wie nötig von den Winterlagern am Rhein an einem schiffbaren Fluss in Richtung zu Weser entfernt, so nah wie möglich an der Nachschubbasis „obere Lippe“. Diese Maxime wird nur vom großen Talkessel an der Emmer zwischen Lügde und Bad Pyrmont erfüllt. Die nächste Zeit wird erweisen, ob das Sommerlager des Varus nach Jahrhunderten andauernder Suche wirklich dort entdeckt worden ist (Abb. 1).
Abb. 1 Mögliche „via principalis“ im mutmaßlichen römischen Mehrlegionenlager (Sommerlager des Varus?) im Raum Lügde/Bad Pyrmont
Panoramafoto: Rolf Bökemeier
Sehr gut würden die im neuen Buch des Verfassers (Römer an Lippe und Weser - Neue Entdeckungen um die Varusschlacht, Huxaria, Höxter 2004) aufgezeigten mutmaßlichen römischen Kohortenlager des Weserberglandes zu dieser Lokalisierung des Sommerlagers des Varus in Lügde passen (vgl. auch entsprechende Beiträge auf der Homepage http://www.roemerfreunde-weser.info). Sie hätten das Hinterland dieses Großlagers in Richtung zum Großen Hellweg und der Lippe absichern können (Abb. 2).
Ein Sommerlager Lügde der römischen Gesamtarmee hätte dann gewissermaßen die Funktion der Speerspitze der römischen Provinz „Weserbergland“ für die geplante Ausweitung nach Osten in Richtung zur Elbe hin gehabt.
Vielen Dank an H. Bökemeier für diesen sehr interessanten Beitrag !!